Böhm-Chronik
600 Jahre Böhm'sche Familiengeschichte
aus dem Waldenburger Bergland
von Guenter Boehm
Februar 2002
Es ist eigenartig. Im “Rentenalter” befasst sich so mancher aktive Mensch mit Aufgaben, für die er im Berufsleben keine Zeit hatte oder auch einfach verdrängt wurden. Wenn man dann noch internationale Enkelkinder hat, werden diese eines Tages wissen wollen, woher kommt Grossvater eigentlich? Warum heissen wir Böhm? Hatte unser Name etwas mit Böhmen zu tun?
Ahnenforschung ist eine aufkommende Populärwissenschaft für Hobbyforscher, besonders in den USA und in anderen typischen Einwanderungsländern. Man wird dabei von einer Leidenschaft erfasst, mehr Wissen über die eigene Familiengeschichte, wie auch über die Heimatgeschichte zu erfahren. Was früher eine Lebensaufgabe war, kann heute mit Hilfe des Internet in wenige Jahren erzielt werden. Hilfsbereite Gleichgesinnte in regionalen Forschergruppen aufgeteilt, wie die Schlesien-Mailing-Liste, erzielen manchmal Wunder.
In unserem Falle reicht der Name Böhm, ursprünglich Behem oder ähnlich, im Waldenburger Bergland bis ins 14./15.Jahrhundert zurück. Deshalb gab es so viele Böhm in der Waldenburger Gegend: Böhm von der Weißsteiner Sippe ist ein alteingesessener Name.
1401: Heincze heiratete Jutta, die Tochter eines aus Böhmen stammenden kleinen Landadelsgeschlecht mit Sitz auf der Veste Schwarzwaldau. Sie wurden um 1350 vom böhmischen Königshaus ins schlesische Land gerufen, als das Herzogtum der Piasten von Schweidnitz-Jauer durch Erbfolge an Böhmen kam. Die böhmischen Edelleute sollten die böhmisch königliche Hausmacht stärken, wurden aber von dem angestammten Adel des Herzogtums wegen der Furcht an Machteinbuse bekämpft und schliesslich zu Raubrittern erklärt. Kurz nach 1400 erlosch das Rittergeschlecht der Böheim / Behem. Wie sie eigentlich hiessen, wissen wir nicht genau. Zur damaligen Zeit war für die Ritterschaft das Wappen wichtiger als der Name, denn “die von Böhmen” war offenbar nur ein Namensanhang.
Jedenfalls kauften Heincze und seine Ehefrau Jutta Böhm (Behem) 1409 ein Bauerngut in Weißstein und Heincze Böhm (Behem) wird hier zum erstenmal mit dem Familiennamen aufgeführt, der eigentlich von dem Geschlecht (Namenszusatz / Spitzname / Herkunftsname: "die Böhmen") seiner Frau übernommen wurde. Heincze Böhm wird als Stammahne der Weißsteiner Böhm-Sippe angesehen; der erste urkundlich erwähnte Böhm im Waldenburger Bergland, lt. Böhm-Forscher Tschersich um 1930.
Erbansprüche auf Besitz, Beruf usw. lassen sich durch einen vererbten Namen ausdrücken. Dies war für den Adel vorrangig, seit 1037 KONRAD II. die Erblichkeit der Lehen zugestanden hatte. So finden sich erste deutsche Familiennamen gegen Ende des l0.Jh. beim Adel. Auch bei Bürgern beinhaltete der Familienname soziales Prestige, indem er die Zugehörigkeit zur Schicht der Besitzenden anzeigte und sie von Knechten und anderen, die nur Rufnamen trugen, abgrenzte.
Nach der Reformation tauchen die ersten Kirchenbücher auf. Vor der Reformation gab es noch keine. Im Evangelischen Kirchenbuch von Waldenburg von 1571-1595 werden in Weißstein der Bauer Adam Böhm (Behm-e) und seine Ehefrau Dorothea, auch Orthe oder Urthe genannt, ab 1572 oft als Paten erwähnt. 1571 wird Christoph Böhm (Behme-e) getauft. Vater ist der Bauer George Böhm (Behm-e) und Anna, seine Ehefrau.
1670 wird Caspar Böhm in Weißstein geboren. 1698 heiratet er in Schweidnitz und wird 1719 und 1725 in Weißstein als Gerichtsgeschworener genannt. 1722 wird Gottlob Böhme geboren.
Im Einwohnerverzeichnis 1734 von Weißstein werden sechs Böhm-Familien genannt.
Im Kuxenverzeichnis 1769 und 1792 erscheinen in Weißstein jeweils vier Böhm-Familien als Kohlenbauern. Im Kuxenverzeichnis 1861 - 1883 von Weißstein erscheint: Johann Ehrenfried Böhm.
Die Dittersbacher Böhm waren ebenfalls Kohlenbauern. Gab es eine Verbindung zur Weißsteiner Böhm-Sippe?
Im unmittelbaren Nachbarort von Weißstein, in Hermsdorf, erscheinen 1781 als Kuxeninhaber (Kohlenbauern): Hans George Böhm und Gottfried Böhm (Grossvater von Johann Gottlieb Böhm - unser Ur-urgrossvater?)
In Hermsdorf wird 1805 unser Ur-urgrossvater Johann Gottlieb Böhm geboren; Gutsbesitzer, Mitglied des Vorstandes der evangelischen Kirche in Waldenburg und Kuxeninhaber. Nach dem 1. Weltkrieg wurde auf dem Gelände des Böhm-Gutes eine Bergarbeitersiedlung errichtet. Die Strasse nannte man die Böhm-Strasse (jetzt Kresowa). Nebenan lag die Böhm-Lehne. Die 800 Jahre alte Eibe, trotzdem sie im jetzigen Stadtplan als Baum unter Denkmalschutz eingezeichnet ist, konnten wir bei unserem kurzen Besuch im Juli 2001 leider nicht finden. Hier war das Gebiet, wo unsere Vorfahren im 18. und 19.Jhd. ihr Bauerngut hatten.
1841 wird unser Urgossvater Johann Karl Wilhelm Böhm in Hermsdorf geboren, ebenfalls in Hermsdorf 1868 unser Grossvater Paul Erdmann Böhm. Unsere Vorfahren waren bis zum 19.Jahrhundert in Weißstein und Hermsdorf überwiegend Bauern (Kohlenbauern). In der Zeit der Habsburger, also bis 1742, wurde die Steinkohle auf den Feldern oder in geringer Tiefe neben der alltäglichen Feldarbeit als Nebenerwerb abgebaut. Als die Steinkohle dann in der Zeit der Preussen gewinnbringend abgebaut werden konnte, die Nachfrage nach dem Produkt durch die aufkommende Industrie ständig stieg, wurden die Bauern wohlhabend. Es ging der Spottruf herum: “Vom Dreckpauern zu Kuxbaronen“. Einige in der grösseren Familie konnten mit ihrem plötzlich erworbenen "Reichtum" besser umgehen als andere. So auch ein Cousin unseres Urgrossvaters, Gustav (Adolf) Böhm aus Hermsdorf, der als gedienter Offizier in der preussischen Kavallerie 1889 ein Rittergut in Tannhausen kaufte und dieses bis 1945 im Besitz seiner Familie war. Durch seine Militärzeit war er viel herumgekommen und wurde dadurch aufgeschlossener - 'gewitzter' könnte man auch sagen - als seine im Heimatdorf verbliebene Verwandtschaft ohne grosse Bildungsmöglichkeiten. Die einzige Möglichkeit für einen Bauern gesellschaftlich etwas hochzukommen war eben nur ein aktives Mitglied innerhalb der Dorfgemeinschaft zu werden. Das erreichte man über die Kirche (Mitglied des Kirchenvorstandes) oder als Gerichtsgeschworener. In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurden die letzten Kohlenbauern von den Bergwerksgesellschaften aufgekauft.
Der Begriff "Rittergutsbesitzer" kam Anfang des 19. Jahrhundert auf, als auch wohlhabende Bürgerliche ein Rittergut besitzen konnten. Vorher war es nur dem Landadel - Baron/Freiherr, Ritter usw. - vorbehalten, da sie auf der untersten Verwaltungsstufe der ländlichen Gebiete standen. Wie ich aus der Chronik des Rittergutes Tannhausen entnehmen kann, wechselten im 19. Jahrhundert öfters die Besitzer. Meistens waren es Kaufleute aus Waldenburg bis es unser Urgrossonkel 1889 kaufte. Bauernsohn, dann Rittmeister und dann Rittergutsbesitzer in Tannhausen: 'A Prussian Dream'. Alles in seiner Zeit gesehen.
Unser Urgrossvater kaufte um 1870 die “Stadt Wien” in Langwaltersdorf. Der Ort lag an der Landstraße vom aufstrebenden industriellen Waldenburg über Friedland nach Braunau (Böhmen). Im Gasthof "Zur Stadt Wien" übernachteten viele Fuhrleute mit ihren Gespannen. Die Kutscher schliefen mit ihren Pferden in den Ställen, die Reisenden in den Zimmer im großen Wohnhaus. Unser Großvater Paul Erdmann Böhm (1868-1926) war Sattler. Er erlernte vermutlich das Handwerk bei Reparaturen der Gespanne, die im elterlichen Gasthof übernachteten. Er heiratete (1895?) Ernestine Martin (*1877), Tochter des gegenüberliegenden Bauerngutbesitzers.
Zur Zeit des Sozialistengesetzes - Verbot der organisierten Arbeiterbewegung durch Bismarck von 1878 bis 1890 - versammelten sich in der "Stadt Wien" 1889 verbotene Arbeitervereine aus Waldenburg, als Kaninchenzüchter getarnt, unter anderem auch streikende Bergarbeiter. Der liberal gesinnte Johann Karl Wilhelm Böhm - unser Urgrossvater - wurde daraufhin angezeigt. Entweder verlor er die Konzession oder er wurde von der Bevölkerung boikottiert. Er fiel jedenfalls so in Ungnade, dass er in der Dorf-Chronik nicht erwähnt wird, obwohl unsere Familie von 1870 bis 1902 in der “Stadt Wien” in Langwaltersdorf lebte. Eine Einsicht in Zeitungsberichte aus jenen Tagen würde sicherlich mehr Licht zutage bringen.
Wegen dem Vorfall von 1889 gab es auch einen Bruch mit der konservativen Hermsdorfer Verwandtschaft. Die kaisertreue Richtung des Rittmeisters Gustav Böhm - unser Urgrossonkel - verachtete die politische Einstellung seines Cousins. Zu seiner pompösen Hochzeit im November 1890 mit der Tochter des Fabrikanten Warmbt aus Waldenburg wurden unsere Böhm’s aus Langwaltersdorf nicht eingeladen. Die Folge war, eine vollkommene Ignorierung und ein Auseinanderleben der beiden Familienzweige. Urgroßvater starb 1892. Danach versuchte meine Urgroßmutter das Geschäft weiterzuführen, jedoch ohne Erfolg. Unser Zweig der Familie verarmte. Großvater war anscheinend noch zu jung, um mit rauhen Fuhrleuten umgehen zu können. Er kam über den Verlust der "Stadt Wien" nicht hinweg und begann zu trinken. Der Gasthof ging 1902 in dem Besitz von Julius Gillner über. Großvater zog 1902 oder 1903 mit seiner Frau und Kindern (Tochter Ida *1896 und Sohn Fritz *1900) nach Glogau als selbständiger Sattlermeister. Sein Onkel, Rittmeister Gustav Böhm, "von der Hermsdorfer Verwandtschaft", wie Vater immer sagte, gab unserem Großvater jedoch ein Empfehlungsschreiben für die Militäreinheiten der Garnisionsstadt Glogau, um dort für diese Einheiten das Sattlerhandwerk betreiben zu können. Er reparierte Geschirrzeug für die Kavallerie und für die Pferdehaltung überhaupt. Als dann die Motorisierung vor allem im Militär fortschritt, ging das Sattlergeschäft zwangsläufig zurück. Großvater starb 1926 in Glogau und Großmutter zog zu ihrer Tochter (unsere Tante Ida Grubich geb. Böhm) nach Liegnitz, wo sie 1931 starb.
Unsere Eltern, Fritz Böhm und Ida Fischer heirateten 1928 in Friedland. In Friedland wird 1929 mein Bruder Herbert Böhm geboren. 1939 werde ich ebenfalls in Friedland geboren. 1948 mit Eltern aus Schlesien nach Sachsen ausgewiesen. 1957 Flucht über Berlin in den Westen. 1958 nach Kanada ausgewandert mit "SS Arcadia" von Bremerhaven. 1959 Motorradreise von Vancouver, BC, nach Whitehorse am Alaska-Highway, zurück nach Edmonton, Alberta, durch die USA und Mexiko bis nach Guatemala. Verkauf des Motorrades. Über Belize, Mexiko, die USA zurück nach Kanada. 1960 Heirat in Mexiko. 1963 als junger Ehemann mit mexikanischer Frau zurück nach Deutschland. Exportkaufmann bei der damaligen Daimler-Benz AG in Düsseldorf, Stuttgart und Frankfurt/Main. 1976 nun mit Familie (drei Söhne) nach Mexico City. Seit 1983 neue Existenz in den USA.
Die 1409 in Weißstein entstandene Böhm-Sippe kann auf eine 600 Jahre alte Geschichte zurückblicken. Wo sind sie geblieben? Vielleicht hätte der eine oder andere noch etwas beizutragen.
Informationen über Familienforschung in Niederschlesien kann in meiner Sammlung zur Familiengeschichte unter “Die kleine Böhm-Chronik” > www.boehm-chronik.com < im Internet nachgesehen werden.