Böhm-Chronik




Die Aussiedlung der Deutschen aus Polen vor der Potsdamer Konferenz (Juni - Juli 1945)



Dokumentation der Konferenz: Grenze und Grenzbewohner. Nachbarn und Fremde. Alte Heimat - Neue Heimat. Abschied und Ankunft. 2. - 4. Dezember 1994, Guben/Gubin Die Aussiedlung der Deutschen aus Polen vor der Potsdamer Konferenz (Juni - Juli 1945)
Prof. Hieronim Szczególa, Zielona Góra / Grünberg



Zum Thema Aussiedlung (oder auch Vertreibung, wie die Deutschen sagen), der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder- Neißelinie sind schon Hunderte von Büchern und Tausende Artikel geschrieben worden. Kann man dem überhaupt noch etwas neues hinzufügen? Offensichtlich ja. Und zwar besonders in Bezug auf die Frage der sog. "wilden" Aussiedlungen im Juni und Juli 1945, die alle Anzeichen einer Vertreibung tragen, den Polen gut bekannt durch ihre eigenen Erfahrungen mit den Nazizwangsaussiedlungen und den stalinistischen Deportationen.

Bis heute ist nämlich das Ausmaß der Aussiedlung vor der Potsdamer Konferenz nicht klar. Das müßte man als erstes erforschen. Ein anderes Problem ist, den Charakter und die Umstände dieser Aussiedlung in der polnischen Literatur objektiv, wenn es überhaupt möglich ist, darzustellen. Es käme darauf an, darüber zu schreiben, was in den bisherigen polnischen Publikationen verschwiegen, einseitig dargestellt oder als Randerscheinung behandelt worden ist. Es muß zu einer gewissen Annäherung der Standpunkte polnischer und deutscher Autoren kommen, so wie das in bezug auf die Fragen der stalinistischen Deportationen und Verbrechen in den polnischen und russischen Forschungen der Fall ist .

Unumstritten ist die Frage der rechtlichen Grundlagen der Aussiedlungen nach der Potsdamer Konferenz im August 1945 und ebenso die Tatsache, daß es bereits früher, noch während der Kriegszeit, entsprechende Absichten gab, die auch angekündigt wurden. Dagegen ist es sicher, daß unterschiedliche Auffassungen über Art und Weise der Aussiedlung, der Organisation, der Verluste u.s.w. bestehen bleiben werden.

Zweifellos geschah die Aussiedlung im Juni und Juli 1945 auf polnische Initiative, und zwar auf eine brutale Weise nach besten nazistischen und stalinistischen Vorbildern, den Polen noch in frischer Erinnerung.

Die zugrundeliegende politische Entscheidung traf das Plenum des ZK der PVAP (Polnische Arbeiterpartei) am 26.5.1945, indem es ankündigte, daß "wir innerhalb des laufenden Jahres die Deutschen aus den wiedergewonnenen Gebieten völlig entfernen und dort 3,5 Millionen Polen ansiedeln müssen, davon 2,5 Millionen in der Zeit bis zur Ernte...." (1) Zwei Tage später sprach Edward Ochab in der Landesberatung der PVAP schon eine deutlichere Sprache: "Aber man muß überlegen, wie man jene 2 - 2,5 Millionen Deutschen, die sich noch in den wiedergewonnenen Gebieten befinden, rausschmeißen kann. Wir teilen die Bevölkerung in drei Gruppen. Die erste schmeißen wir unter Ausnutzung unserer technischen Möglichkeiten direkt raus oder, wie der schlesische Wojewode sagt, wir treiben sie als Haufen hinter die Oder und Neiße. Die zweite Gruppe der Deutschen, die, die in der Industrie tätig sind, wo wir einen Mangel an Fachleuten haben, bleibt noch eine zeitlang da, bis wir selbst über die nötigen technischen Kräfte verfügen. Die dritte Gruppe Deutscher, die in den Städten überflüssig sind, die wir aber mangels ausreichender Transportmittel nicht entfernen können, versetzen wir in die Provinz, damit sie dort arbeitet, bis die Situation reif ist, sie über die Oder zu setzen". (2)

Der politischen Entscheidung folgten Befehle des Oberkommandos des Polnischen Heeres und der Kommandos einzelner Divisionen, die an der Aktion beteiligt waren. (3) Nach dem Befehl des Oberkommandos vom 10. Juni 1945 begann das Kommando der 7. Infanteriedivision mit den Vorbereitungen der Aussiedlung. Diese sollte zunächst nur in den Kreisen durchgeführt werden, die für Besiedlung durch Angehörige des Militärs bestimmt waren, d.h. in einer 30 Kilometer breiten Grenzzone. In der Praxis umfaßte die Aussiedlungsaktion jedoch ein Gebiet, das bis zu 200 Kilometer von der Westgrenze ins Land reichte. Die Aktion begann am 20. Juni in den Kreisen Gubin (Guben) und Luban (Lauban) und erreichte in den nächsten Tagen das übrige Gebiet. Die stärksten Aktivitäten fielen in die Zeit vom 24. bis zum 28. Juni. Mittel Juli wurde die Aktion unterbrochen.

A. Ogrodowczyk schreibt: "Gegenüber der auszusiedelnden deutschen Bevölkerung verhielten sich die polnischen Soldaten ehrenhaft und würdevoll. Sie rächten sich nicht, obwohl ihre Erinnerungen an die Methoden, die die Nazis gegen die polnische Bevölkerung während der Okkupation in den Jahren 1939 - 1945 angewendet hatten, noch frisch und schmerzhaft waren. Ein äußerst humanes Verhalten zeigten die polnischen Soldaten bei der Bildung der Autokolonnen oder Trecks, die Greise, Kinder, schwangere Frauen und Behinderte transportierten. Der Sommer und das herrliche Wetter bildeten günstige Bedingungen für diese Aktion". (4)

Bei A. Czubinski heißt es schon objektiver: "Ende Juni begann man mit der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus der Grenzzone, die 12 Kreise umfaßte. Die Bevölkerung wurde 24 Stunden vor der Aktion benachrichtigt. Erlaubt wurde, nur so viel Gepäck mitzunehmen, wie der Betroffene ohne Fuhrwerk in der Lage war zu transportieren. Die Aktion dauerte vom 22.6 bis zum 10.7.1945. Insgesamt sind damals 300 - 400.000 Menschen ausgesiedelt worden". (5)

In den Lehr- und Schulbüchern wird dagegen weiterhin ausschließlich über die Aussiedlung nach der Potsdamer Konferenz berichtet. (6) Die Formulierungen in den Schulbüchern sind aber wichtig, weil sie in großem Ausmaß über das historische Bewußtsein der Gesellschaft entscheiden. Die damalige Wirklichkeit wich erheblich von der Normalität ab. In den Befehlen und Verordnungen der Militärbehörden aus dieser Zeit wurde deutlich empfohlen: "Wir siedeln die Deutschen aus dem polnischen Territorium aus (...). Die Deutschen soll man so behandeln, wie sie uns behandelt haben. Viele haben schon vergessen, wie die Deutschen mit unseren Kindern, Frauen und Greisen umgegangen sind". (7) In anderen Befehlen hieß es, übertriebene Höflichkeit sei nicht angebracht, man solle so verfahren, daß "die Deutschen von selbst vor uns flüchten", "man brauche die Deutschen nicht darum zu bitten, daß sie gnädigst unsere Gebiete verlassen". Das Kommando der 10. Infanteriedivision empfahl, unter den an der Aktion beteiligten Soldaten eine Stimmung zu verbreiten, "die Deutschen gnadenlos und für immer vom polnischen Boden zu vertreiben". (8) Das Militärarchivmaterial zeigt also, daß es notwendig war, die Soldaten durch "politische Arbeit" anzuspornen und eine antideutsche Stimmung künstlich auszulösen.

Heute fällt es schwer, eindeutig zu entscheiden, ob ein ähnliches Vorgehen in der damaligen Tschechoslowakei auf die Juniaussiedlung der Deutschen aus Polen im Jahre 1945 Einfluß hatte. Schon im Mai wurden dort auf äußerst brutale Weise etwa 800.000 Deutsche ausgesiedelt. Z.B. erreichten von 30.000 Deutschen aus Brünn, denen befohlen wurde, die Stadt innerhalb von 30 Minuten zu verlassen, nur 12.000 Österreich. Da die Österreicher sie am Anfang nicht aufnehmen wollten, lagerten sie einige Wochen lang unter freiem Himmel an der Grenze, was u.a. diese riesigen Verluste verursachte. (9) Es ist bemerkenswert, daß - im Unterschied zu Polen, wo die Initiative von den kommunistischen Behörden ausging - die demokratische Regierung von E. Benes diese Aussiedlung organisierte. Zahlreiche Autoren zeigen sich befremdet darüber, daß es gerade in der Tschechoslowakei, wo das Naziregime weitaus milder war als in Polen, zu so vielen Ausschreitungen und Pogromen kam. Außer dem "Todesmarsch" aus Brünn wird noch auf das Lager für Deutsche in Theresienstadt (Teresin) und den Pogrom in Aussig an der Elbe (Usti n. Labem) hingewiesen.

Erst in den letzten Jahren gibt es in der tschechischen Fachliteratur Stimmen, die kritisieren, daß nach dem Kriege in der Tschechoslowakei den Deutschen gegenüber die These der Kollektivschuld angewandt wurde. Man muß also, was die Brutalität der Aussiedlung (Vertreibung) im Juni angeht, dem größten Teil der Berichte zustimmen, die von den Deutschen nach dem Krieg gesammelt wurden und in der Ost-Dokumentation des Bundesarchivs in Koblenz aufbewahrt werden. Die Berichte sind zum Teil in der mehrbändigen "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" veröffentlicht worden. (10)

Wenn man den deutschen Verfassern der Erlebnisberichte ihr moralisches Recht zuerkennt, ebenso wie den deutschen Autoren, die über die Aussiedlung der deutschen Zivilbevölkerung aus dem ehemaligen deutschen Osten schreiben, so fällt es doch schwer, darauf zu verzichten, ihre Einseitigkeit zu erwähnen. Wenn man z.B. die Methoden der ersten Juniaussiedlungen mit der Aussiedlung von Polen aus Großpolen in den Jahren 1939 und 1940 vergleicht, dann gewinnt man den Eindruck, daß sie nach der gleichen "Anweisung" erfolgten (Zeit zum Verlassen der Wohnung; Verzeichnis und Gewicht der Sachen, die man mitnehmen durfte; Sammellager u.ä.).

Das Unglück der Deutschen beruhte zusätzlich darauf, daß diese Art der Aussiedlung zunächst nur für die Bevölkerung des unmittelbaren Grenzstreifens vorgesehen war. Daher auch die Methode, die Menschen in Marschkolonnen zu Fuß hinter die Oder- Neißelinie zu bringen. Die Ausdehnung des Aussiedlungsgebietes hatte zur Folge, daß oft fast 200 Kilometer zurückzulegen waren (dazu kamen nicht selten noch einige zehn oder mehr Kilometer jenseits von Oder und Neiße). Die Fußmarschkolonnen kamen u. a. aus Babimost, Liegnitz, Meseritz, Rawsko, Strzelce Krajenskie und anderen Kreisen. Diese bedauernswerten Märsche von Frauen, Kindern und Greisen (nicht in jeder Kolonne war der Krankentransport gesichert) waren von zahlreichen Todesfällen begleitet, und es gab auch mehrfach Raubüberfälle. Wenn auch in den ersten Tagen der Aussiedlung sonniges Wetter und oft Sommerhitze herrschten, so gab es Ende Juni und Anfang Juli strömenden Regen, der besonders in der Zeit des mehrtägigen Lagerns an den wenigen provisorischen Brücken schwer zu ertragen war. Oft wurden die Deutschen direkt über die Neiße getrieben, weil sich die Wartezeiten, bis man über die Brücke gehen konnte, verlängerten (z.B. in der Nähe von Guben).

Es sollte sich also niemand über die Kritik der deutschen Autoren daran wundern, daß in der polnischen Fachliteratur diese Aussiedlungsphase entweder verschwiegen oder ihr humaner Verlauf geschildert wurde. (11) Das Mißverständnis beruhte oft auch darauf, daß die Deutschen über die "wilde" Juniaussiedlung schrieben, während die polnischen Autoren Dokumente und Berichte über die spätere Aussiedlung anführten, an der sich das Polnische Rote Kreuz und internationale Beobachter beteiligten, d.h. schon nach der Potsdamer Konferenz (Ende 1945). (12)

Heute hindert die polnischen Historiker nichts und niemand mehr daran, sich in ihren Arbeiten auf die Quellen der Ost-Dokumentation in Koblenz und des Zentralen Militärarchivs in Warschau zu beziehen und den tatsächlichen Verlauf der Juniaussiedlung 1945 darzustellen. Das bisherige Schweigen - nicht immer Schuld der Autoren - und der Übereifer bei der Darstellung des "humanen" Verlaufs der Aussiedlung sowie die Kritik, die deutsche Fachliteratur sei voller Fälschungen, waren für den bisherigen Dialog zwischen deutschen und polnischen Historikern in diesem Bereich nicht förderlich.

In den Jahren 1970 -1990 entstand eine neue umfangreiche deutsche Fachliteratur von großem wissenschaftlichen Wert, die das Schicksal der Deutschen im Osten behandelt und frei ist von politischen Akzenten. (Benz, Berthold, Blumenwitz, Böddeker, Nawratil, Reichling, Ziemer u.a.[13]) Das erleichtert eine Verständigung der Forscher. Die propagandistischen und politischen Akzente in der bisherigen deutschen Fachliteratur wurden u.a. durch die synthetischen Arbeiten von Gotthold Rhode, Martin Broszat und Hans Roos überwunden, in denen die deutsch-polnischen Beziehungen in einem neuen Licht erscheinen; dazu zählt auch die ausgezeichnete Arbeit von H.G. Lehmann. (14) Einen großen Einfluß auf die gesamte Entwicklung der Forschungen hatte auch eine frühere Bearbeitung des amerikanischen Autors Alfred de Zayas. (15) Bemerkenswert ist auch die ruhige Atmosphäre, in der ohne politisch-propagandistische Akzente die Zahl der Vertreibungsopfer und Flüchtlinge in den Jahren 1969 - 1974 durch das Bundesarchiv in Koblenz ermittelt wurde. Denn eben die Benennung der Höhe der Verluste rief immer die meisten Emotionen und Polemiken hevor. Selbst deutsche Autoren sprachen vom Jonglieren mit Millionen von Opfern aus politischen Zwecken. (16) Die Mitarbeiter des Bundesarchivs haben versucht, aufgrund genauer Analyse der Zeugnisse aus der Ost-Dokumentation (17) und anderer Archivmaterialien, das Ausmaß der Menschenverluste präzise zu bestimmen, die die Deutschen infolge der Verbrechen während der Flucht, der durchziehenden Front und der Vertreibung erlitten hatten.

Ein anderes Problem ist die Bestimmung der Zahl der von der Juniaussiedlung betroffenen Menschen. In dieser Hinsicht herrscht in der polnischen Fachliteratur völlige Willkür. Man kann bis zu zehn unterschiedliche Versionen finden. Die extremste der genannten Zahlen beträgt 1 Mio. 300.000 oder 200 - 250.000. Es werden auch andere Zahlen genannt: 300.000, 400.000, 350 - 450.000, 500 - 550.000, 600 - 630.000. In der deutschen Fachliteratur wird meist die niedrigste dieser Zahlen genannt, nämlich 250.000.

Was ist die Ursache dieser Diskrepanzen? Die wichtigste Informationsquelle bilden Meldungen von Divisionen, die an der Aussiedlungsaktion beteiligt waren. (18) Aufgrund dieser Meldungen kann man schließen, daß in der Zeit vom 21. Juni bis Mitte Juli etwa anderthalb Millionen Deutsche ausgesiedelt worden sind. Gleichzeitig folgt aber aus denselben Meldungen, daß eine gewisse, nicht näher bestimmte Zahl der ausgesiedelten Deutschen zurückgekehrt ist oder die hinter die Oder-Neißelinie geleiteten Marschkolonnen unterwegs verlassen hat. Obwohl diese Kolonnen theoretisch 10 Kilometer tief in das Gebiet jenseits der Grenze geführt werden sollten, wurden sie bis zur Grenze gebracht oder nicht selten von den Begleitern noch auf dem Weg verlassen. Oft werden die Knappheit der Begleitkräfte und die Möglichkeit des mühelosen Überquerens der Lausitzer Neiße (niedriger Wasserstand) in beiden Richtungen hervorgehoben. Deshalb vermindert die Mehrheit der Autoren die militärischen Angaben und nennt viel niedrigere Schätzungen. Lediglich Krystyna Kersten besteht in einer ihrer früheren Arbeiten auf der Zahl von 1.200.000. (19) Am häufigsten wird eine Zahl von 250 bis 400.000 genannt. Höhere Angaben erwähnen A. Ogrodowczyk (500.000), S. Zwolinski (620 - 630.000) und Z. Romanow (500 - 550.000). (20) Die Willkürlichkeit der Schätzungen beruht auch auf dem Mangel an verläßlichen Quellen aus dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone bis 1949. Die letzten Angaben über die Herkunft der Einwohner in der sowjetischen Besatzungszone betreffen das Jahr 1949. Später hat man auf derartige statistische Erhebungen ganz verzichtet. Erst nach 1990 nimmt man Forschungen wieder auf, deren Themen die regionale Herkunft der Bevölkerung in der ehemaligen DDR und die Integration der zugezogenen Bewohner aus dem Osten sind. (21)

Die von den Autoren der oben genannten Arbeit angeführte Vertriebenenzahl betrug in der sowjetischen Besatzungszone nach dem Stand vom 19.4.1949 4.312.000 Menschen (22) und war damit nicht viel niedriger als die in den Westzonen (4.541.000 im Jahr 1950). (23) Aus früheren deutschen Erhebungen ergab sich dagegen eine viel niedrigere Zahl der Vertriebenen in der späteren DDR. Die "verlorene" Anzahl (etwa eine Million Menschen!) erhöhte die Bilanz der "ungeklärten" deutschen Verluste im Osten, die so gern sowohl von den offiziellen Politikern als auch von den Aktivisten des Bundes der Vertriebenen hervorgehoben wurden. Nach den meisten Angaben betrug die Größe der Verluste 2 Milli-nen. (24) Die heute veröffentlichten Zahlen von "Vertriebenen" in der DDR deuten daraufhin, daß sich die bisher in den statistischen Erhebungen nicht berücksichtigte Anzahl von Vertriebenen vor allem daraus ergibt, daß die Zahl der von der "wilden Aussiedlung" im Juni und Juli 1945 Betroffenen in der DDR vermindert und verschwiegen wurde. Die über die Oder und Neiße getriebenen Menschen bemühten sich, ihrem alten Wohnsitz möglichst nahe zu bleiben, in der Hoffnung auf eine eventuelle Rückkehr oder auch, um ihre Familie wiederzufinden. In Mecklenburg-Vorpommern bildeten die Vertriebenen 1949 sogar 43,3% aller Einwohner und in Brandenburg 24, 8%. (25) Die heutigen Erhebungen bestätigen diese Angaben vollständig. Nennenswert ist auch die Tatsache, daß frühere deutsche Autoren in ihren Publikationen die Schätzungen des Berliner Ökonomen B. Gleitze und der polnischen Wissenschaftler A.Brozek und J. Kokot übergingen, deren Untersuchungsergebnisse heute eine Bestätigung in den Dokumenten der DDR-Archive finden. (26)

Deutsche Autoren nahmen konsequent die nied-rigste der von den polnischen Wissenschaftlern genannten Vertriebenenzahlen an, d.h. 250 oder sogar 200.000, weil sie auf diese Weise die Zahl der Verluste infolge der Aussiedlung vergrößerten und diese Verluste u.a. der polnischen Seite zur Last legten. (27)

Als Fazit der Überlegungen zum Thema Zahlenstärke der "wilden" Aussiedlung von Deutschen aus Polen im Jahr 1945 drängt sich der Gedanke auf, daß es heute keinen Grund mehr dafür gibt, die damaligen dramatischen Ereignisse hinsichtlich heutiger politischer Interessen zu interpretieren. Es gibt jetzt auch einen unbeschränkten Zugang zu Quellen in Polen und der ehemaligen DDR. Mit der Zeit werden wohl auch Informationen aus den ehemaligen sowjetischen Archiven zugänglich sein, die das Schicksal der nach dem Krieg deportierten Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neißelinie betreffen.

Schon jetzt könnte man von polnischer Seite aus bestätigen, daß die Aussiedlung von Deutschen, besonders in der Zeit vor der Potsdamer Konferenz, wenig mit einer humanen Aktion zu tun hatte. Auch die Welle der sog. "freiwilligen" Ausreisen in der Zeit von August bis Oktober 1945 war grundsätzlich eine erzwungene Aussiedlung. J.Bialecki zitierte schon 1969 den Text der Erklärung über "freiwilliges Verlassen des Gebiets der Republik Polen". (28) Man muß sich auch zu den Verbrechen an der deutschen Bevölkerung bekennen, darunter auch zu denen an den sog. Autochthonen in dem Lager in Lambsdorf u.a. Das einseitige, idyllische Bild der Aussiedlungs-aktionen gegen Deutsche muß sowohl aus den wissenschaftlichen Bearbeitungen als auch aus den Schulbüchern verschwinden.

Parallel dazu sollten auch deutsche Autoren in einem breiteren Ausmaß als bisher die in der Ost-Dokumentation enthaltenen Beispiele nutzen, die vom Zusammenwirken und Zusammenleben von Polen und Deutschen in vielen Orten im Jahr 1945 und später zeugen. Diese "Dokumentation" wurde bis jetzt viel zu einseitig durchforscht, lediglich in Hinsicht auf Verluste. Wenn man schon über die Verluste spricht, dann kann man erwarten, daß deutsche Verluste und Verbrechen an den Deutschen, an denen sowjetische Behörden schuld sind, von jenen getrennt werden, die durch polnische Behörden nach der Übernahme der Verwaltung von den Sowjets entstanden sind. Es ist gut, daß wir die Periode der einseitigen Beschreibung von Leiden der Deutschen ohne Berücksichtigung des Schicksals der Polen während der Okkupation und nach dem Krieg schon hinter uns haben. Es gab jedoch noch vor kurzem eine Strömung in der deutschen Fachliteratur, in der deutsche Verluste mit Auschwitz und Treblinka aufgerechnet wurden. Gegen diese Strömung polemisierte schon 1985 der deutsche Autor Josef Henke.

Anmerkungen:

1. PPR [Polnische Arbeiterpartei] VIII. 1948 - XII. 1945. Dokumenty [Dokumente]. Warszawa 1959 S. 158.
2. Centralne Archiwum KC PZPR [Zentralarchiv des ZK PVAP] Signatur 295/VII-34 [jetzt Archiwum Akt Nowych (Archiv der Neuen Akten)].
3. Die Beteiligung der Armee an dieser Aktion wurde schon früher eingehend in der polnischen Fachliteratur besprochen. Vgl. u.a. A.
Ogrodowczyk, Nad Odra i Baltykiem. Osadnictwo wojskowe na zachodnich i pólnocnych ziemiach Polski po drugiej wojnie Swiatowej [An der Oder und der Ostsee. Militärische Besiedlung in den West- und Nordgebieten Polens nach dem 2. Weltkrieg], Warszawa 1979 und
S.Zwolinski, Wklad Ludowego Wojska Polskiego w utrwalanie przemian spoleczno-politycznych na ziemiach zachodnich i pólnocnych [Der Beitrag der Polnischen Volksarmee zur Befestigung der gesellschaftlich-politischen Änderungen in den West- und Nordgebieten]. In: Ludowe Wojsko Polskie w walce, sluzbie i pracy na ziemiach zachodnich i pólnocnych 1945 - 1950 [Polnische Volksarmee im Kampf, im Dienst und in der Arbeit in den West- und Nordgebieten 1945 - 1950]. Poznan 1983. Hier auch Literaturnachweis zum besprochenen Problem.
4. A. Ogrodowczyk, ebd. S. 34.
5. A. Czubinski, Dzieje najnowsze Polski 1944 - 1989 [Die neueste Geschichte Polens 1944 - 1989]. Poznan 1992 S. 70.
6. Vgl. A. Pankowicz, Historia 4. Podrecznik dla szkól srednich [Geschichte 4. Ein Lehrbuch für die Oberschulen]. Warszawa 1990 und die nächsten Ausgaben S. 180.
7. Rozkaz Dowództwa 2 Armii Wojska Polskiego z 24.6.1945 [Befehl des Kommandos der 2. Armee des Polnischen Heeres vom 24.6.1945]. Centralne Archiwum Wojskowe [Militärisches Zentralarchiv] III/60/5 S. 115.
8. Auf das Auslösen der antideutschen Stimmung unter den Soldaten hat schon 1965 B. Pasierb in der Originalversion seiner Dissertation über das Aussiedeln der deutschen Bevölkerung aus Niederschlesien aufmerksam gemacht. In der veröffentlichten Version aus dem Jahr 1969 hat die Zensur alle Zitate zu diesem Thema, die aus Militärarchiven stammten, weggestrichen.
9. J. Kozenski, Wokól banicji ludnosci niemieckiej z Czechoslowacji po drugiej wojnie swiatowej [Über die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg]. In: Z dziejów przemian w Europie srodkowo-poludniowo-wschodniej po drugiej wojnie swiatowej [Zur Geschichte der Umwandlungen in Mittel-Süd-Osteuropa nach dem 2. Weltkrieg]. Hrsg. v. Michal Pulaski. Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego [Wissenschaftliche Hefte der Jagellonen-Universität]. Prace Historyczne [Historische Arbeiten] 107. Kraków 1993 S. 147-160.
10. Bundesarchiv in Koblenz. Ost-Dokumentation. Eine Sammlung von Umfragen, Erinnerungen, Berichten u.a. Dokumenten, die von deutschen Einwohnern aus Ost-, Mittel- und Südeuropa gewonnen wurden. Eine Auswahl von Berichten in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. I - V hrsg. v. Th. Schieder, Bonn 1953 - 1961.
11. Noch am 17.8.1945 wurde in Liegnitz in der Beratung der Bezirksbevollmächtigten für Niederschlesien unterwiesen: "Die Aussiedlung von Deutschen (...) soll auf eine karitative und nicht barbarische Weise, wie es schon geschah, durchgeführt werden. Der Deutsche soll im geringsten Grad spüren, daß er ausgesiedelt wird. Deswegen wird die Repatriierung der Deutschen eingeführt. Als erste werden Freiwillige ausgesiedelt, und wir werden auf unserer Seite mit allen Kräften dafür sorgen, daß es möglichst viele von diesen Freiwilligen gibt". Archiwum Panstwowe [Staatsarchiv]. Urzad Wojewódzki Wroclaw [Wojwodschaftsamt Breslau] I/10.
12. Es betrifft vor allem populärwissenschaftliche, aber allgemein verbreitete Arbeiten, wie: S. Schimitzek, Przeciwko falszerstwom [Gegen Fälschungen], Warszawa 1966; E. Meclewski, Rzekoma milionowa mniejszosc niemiecka w Polsce [Die angebliche deutsche Millionenminderheit in Polen], Warszawa 1987 und Cz. Pilichowski, Falszerstwo czy prowokacja? [Fälschung oder Provokation?] Warszawa 1977
13. U.a.:
W. Benz, Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Frankfurt a.M. 1985;
W. Berthold, Die große Flucht. Das Kriegsende in Ostdeutschland. Bayreuth 1975;
D.Blumenwitz, Flucht und Vertreibung. München 1987;
G. Böddeker, Die Flüchtlinge. Die Vertreibung der Deutschen im Osten. München. Berlin 1980;
G. Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen, Bonn 1986 u.a.
14. Vgl.
G. Rhode, Geschichte Polens. Ein Überblick. Darmstadt 1975;
M. Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939 -1945. Stuttgart 1961;
J. Roos, Geschichte der polnischen Nation 1918 - 1978. Stuttgart 1979;
H. G. Lehmann, Der Oder-Neiße-Konflikt, München 1979.
15. A.M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. München 1977.
16. Vgl. z. B. W. Benz, Vierzig Jahre nach der Vertreibung. In: die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Frankfurt a.M. 1985 S. 10.
17. Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945 - 1948. Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974. Bonn 1989.
18. Die Divisionsmeldungen führt Z. Romanow am vollständigsten an. In : Ludnosc niemiecka na ziemiach zachodnich i pólnocnych w latach 1945 - 1947 [Die deutsche Bevölkerung in den West- und Nordgebieten in den Jahren 1945 - 1947]. Slupsk 1992 S. 18.
19. K. Kersten, Osadnictwo wojskowe w 1945 r. Próba charakterystyki. [Militärische Besiedlung im Jahr 1945.]. In: Przeglad Historyczny [Historische Rundschau] 1964 H. 4 S. 650.
20. A. Ogrodowczyk, ebd. S. 36; S. Zwolinski, ebd. S. 317; Z. Romanow, ebd. S. 18.
21. Vgl. die interessante Arbeit: Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Wiesbaden 1993.
22. Ebd. S. 19.
23. Die deutschen Vertreibungsverluste. Stuttgart 1958 S. 39.
24. Ebd. S. 38 und Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I S. 158 E.
25. Sie hatten alles verloren ... S. 19.
26. B. Gleitze, Die ostdeutsche Wirtschaft, industrielle Standorte und volkswirtschaftliche Kapazitäten des ungeteilten Deutschland. Berlin 1956; A. Brozek, J. Kokot, Integracja przesiedlenców w Niemczech po II wojnie swiatowej [Die Integration der Umsiedler in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg]. Wroclaw-Warszawa-Kraków 1966.
27. Als Grundlage haben hier die deutschen Autoren die Schätzung angenommen, die in der Dokumentation der Vertreibung Bd. I, S. 143 enthalten ist. Lediglich T. Urban nennt in seiner sachlichen und objektiven Arbeit: Deutsche in Polen. Geschichte und Gegenwart einer Minderheit. München 1993 S. 55, die Zahl von 400.000 Ausgesiedelten in der Zeit vor der Potsdamer Konferenz. Urban stützt sich hier auf K. Skubiszewski, Wysiedlenie Niemców po II wojnie swiatowej [Die Aussiedlung der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg]. Warszawa 1968. 28. J. Bialecki, Przesiedlenie ludnosci niemieckiej z Pomorza Zachodniego po II wojnie swiatowej [Die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus Hinterpommern nach dem 2. Weltkrieg]. Poznan 1969 S. 61.
29. J. Henke, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat im Osten und Südosten 1944 - 1947. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1985 Nr. 8 S. 16.

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