Böhm-Chronik



Schlesien wird polnisch

Beitrag von Herbert Böhm (Jahrgang 1929) und Günter Böhm (Jahrgang 1939)

Im Juni 1945 kam eine polnische Militäreinheit nach Friedland. Es war ein seltsames Bild. Erst ein Offizier auf einem Schimmel, dann ein Pak-Geschütz von Pferden gezogen, dann Soldaten, vielleicht 100 Mann. Sie hatten die typischen viereckigen polnischen Mützen auf und wurden von uns deutschen 16-jährigen Jungens nicht als Sieger betrachtet. Sieger waren für uns die Russen. Die Polen zogen zur tschechischen Grenze nach Göhlenau und richteten dort Grenzposten ein. Dann wurde alles polonisiert. Strassenschilder in polnisch, Geschäfte in polnisch, Polizei polnisch. Immer mehr polnische Zivilisten kamen aus Ostpolen, aber auch aus Frankreich. Wir hörten das Schlesien bis zur Görlitzer Neisse an Polen kommen sollte. Das war für uns zuerst unfassbar, da Polen ca 150 km und die Tschechoslowakei nur 3 km entfernt war. Wir hatten eher damit gerechnet, das wir zu den Tschechen kommen könnten.

Wir Deutsche waren rechtlos. Es gab keine Arbeit, keine Rente für die alten Leute, die Menschen wurden aus den Wohnungen buchstäblich hinausgeworfen, hatten somit auch nichts mehr gegen Lebensmittel einzutauschen. Die Miliz ging rigoros gegen Deutsche vor. Es war gleich, ob jemand Nazi war oder nicht. Man wurde als 'deutsches Schwein' bezeichnet. Es herrschte der Pöbel. Polen, die anständig waren - auch diese gab es - mussten wegsehen und schweigen. Auch ich wurde einmal von einem Milizmann schwer verprügelt, da ich nach der Sperrstunde noch auf der Strasse war. Vater hatte als Bergmann einen 'Nichtausweisungsbescheid' erhalten, der an der Tür befestigt war. Alle anderen Deutschen mussten die Stadt verlassen. Erst waren es sogenannte wilde Ausweisungen, 'wilde Trecks'.

Ich kann nicht mehr genau sagen, wann die Vertreibung der Deutschen in Friedland, das nun Mieroszów heisst, durch Sonderbefehl begann. Ich vermute, es war im Sommer 1945, denn es war heiss und schönes Wetter. Vater hatte damals noch nicht den Bescheid des Bergwerkes, also die Nichtausweisungsbescheinigung. Eines Tages erschien ein polnischer Beamter mit mehreren Soldaten. Sie kamen in das Haus und ordneten an, dass die Familie Neugebauer (Molkerei), ein Ehepaar von cirka 60 Jahren, sowie die Familie David (Klempnerei) ungefähr das gleiche Alter die Wohnungen in kurzer Zeit, vielleicht eine halbe Stunde, zu verlassen haben, um sich auf der Landeshuter Strasse in einer Kolonne zu sammeln. Die Polen kamen auch in unsere Wohnung und ordneten die Vertreibung an. Vater versuchte zu erklären, dass er im Bergbau arbeitete. Doch wir konnten nicht polnisch und sie sprachen kein deutsch. Vater ging zum Kohlenkasten und nahm ein Stück Kohle heraus und sagte "wengler rabottki" oder so ähnlich und nun verstanden die Polen, dass er im Bergbau beschäftigt war. Wir konnten in unserer Wohnung bleiben. Neugebauer hatte sich von Treutler einfach den kleinen Leiterwagen genommen und sein Handgepäck darauf verstaut. David versuchte sich auf der Toilette, die im Anschluss an die Schuppen war - ein sogenanntes Plumsklo - zu verstecken. Doch er hatte Pech, auf dem Klo sass ich und hatte die Tür von innen abgesperrt. Ein polnischer Soldat hatte David verfolgt, eingeholt und zusammengeschlagen. David war Tscheche, seine Frau war Deutsche, er hatte einen Sprachfehler und stotterte. Der Pole wird wohl gedacht haben, das er Deutscher war und sich nur als Tscheche ausgab. Es war ein Elendszug von Deutschen, der nun unter Bewachung vom polnischen Militär auf der Landeshuter Strasse stadtauswärts zog. Meine Eltern und ich haben von der Familie Neugebauer und der Familie David nie wieder etwas erfahren.

In den nun verlassenen Wohnungen wurden polnische Familien oder, wie in der Wohnung von David - sie waren die Hausbesitzer - polnische Juden eingewiesen. Es war eine Familie Feldan. Frau Feldan bekam später ein Baby (Benjamin) und Mutter half nun im Haushalt und wusch die Wäsche. Herr Feldan war Schuhmacher, er sprach gut deutsch und war immer freundlich und hilfsbereit zu uns. Abraham (ca.18 J.), Bruder von Frau Feldan, war öfters mit mir zusammen. Mein Vater hatten dann einmal eine kleine Gruppe polnischer Juden, darunter auch Abraham, durch die Wälder illegal über die Grenze nach Wiesen (Tschechoslowakei) geführt. Die Gruppe wollte dann weiter über Österreich nach Palästina. Nach ein paar Wochen war Abraham wieder zurück. Das Schiff aus Italien kommend, durfte Palästina nicht anlaufen. Es kamen immer mehr Polen nach Friedland, so dass wir dann auf der Liebigstrasse (ulica krotka) im Haus Nr. 2 die einzige deutsche Familie waren. Mutter hatte Angst, denn Vater arbeitete auch in Nachtschicht im Bergbau und so zogen wir 'bei Nacht und Nebel' in ein sehr altes Haus (Heinelthaus) auf der Landeshuter Strasse. Wir hofften, dass dort keine Polen einziehen werden, da diese vorerst nur die guten Häuser bezogen. Es war eine Einzimmerwohnung in einem wirklich uraltem Haus.

Es kam die Zeit, da alle Deutschen eine weisse Armbinde (10 cm hoch) am rechten Oberarm tragen mussten. Dies hatte natürlich den Nachteil, dass man als Deutscher sofort zu erkennen war. Vater ist einmal von der Arbeit gekommen, am Bahnhof wurden die deutschen Bergarbeiter, die mit dem Zug von der Arbeit kamen, abgefangen und mussten Waggons entleeren. Sie hatten an diesem Tage kaum Schlaf, da sie ja wieder pünktlich zur nächsten Schicht fahren mussten. Die Bergleute fuhren mit dem Zug von Friedland nach Waldenburg. Die Deutschen in Viehwaggons. Einmal musste sich Vater in Göhlenau auf der Grenzstation eine Bescheinigung abstempeln lassen. Vater nahm Günter (7J.) mit. Als sie dort ankamen, sahen sie, dass ein polnischer Grenzsoldat am Holzhacken war und ein grosser Haufen von ungehackten Blöcken lag noch da. Vater musste nun das Holz hacken und Günter wurde von den Grenzsoldaten nach Hause gescheucht. Vater musste abends wieder zur Nachtschicht. Ich schreibe das nur auf, um auszusagen, dass wir vollkommen rechtlos waren.

Ich selbst habe dann auch kurze Zeit in Waldenburg-Dittersbach auf der Melchiorgrube gearbeitet. Der Verdienst reichte jedoch nichtmals für die notwendigsten Dinge des täglichen Lebens. Da wir wussten, dass wir früher oder später ohne Mitnahme von Wäsche oder Wertsachen Schlesien verlassen müssen, haben wir vieles an Polen oder Juden verkauft. Das war jedoch streng verboten, da jeder persönlicher Besitz der Deutschen jetzt Eigentum des polnischen Staates war. Für Tante Trudel haben wir die versenkbare Naumann-Nähmaschine - ein damals sehr wertvolles Stück - für ein paar tausend Zloty an Polen verkauft. Das alles war für mich, als auch für Feige Jochen und Weich Hans, sowie für die Polen, die diese Maschine kauften nicht ungefährlich.

Alle Rundfunkgeräte mussten von den Deutschen bei der russischen Kommandantur abgegeben werden. Die Russen gingen damit um, als ab es alte Möbelstücke wären. Jochen war Elektriker und er musste für sie arbeiten. Die Russen waren abgeschirmt auf der Heldstrasse, wo die Polen nicht hindurften. Überhaupt war das Verhältnis zwischen Polen und Russen nicht freundschaftlich, eher feindlich.

Da das Leben für Deutsche 1946 fast unerträglich war, bin ich dann im Juni 1946 zusammen mit meiner Tante in dann schon geordneten Transporten ausgesiedelt. Nur Bergarbeiter und noch sehr wenige dringend gebrauchte Facharbeiter mussten bleiben. Wir kamen in ein Sammellager nach Waldenburg und durften nur Handgepäck mitnehmen. In Waggons, je Waggon ca. 30 Personen, wurden wir in Kohlfurt von einer englischen Militärmission empfangen, desinfiziert und weiter ging es nach Rheine (Westfalen) in die damals britische Zone.

Ich hatte meine Eltern und meinen Bruder schweren Herzens verlassen. Aber ein lebenswertes Leben war in Schlesien als Deutscher nicht mehr möglich. Im Juli, also einen Monat nach dem Verlassen meines Heimatstädtchens wurde ich 17 Jahre alt. Ich hatte den Krieg und die schreckliche Nachkriegszeit unter Russen und Polen überlebt. Ich war wieder ein freier Mensch, wenn auch vollkommen mittellos, wieder unter Deutschen.

Im November 1948, meine Eltern und mein Bruder waren in die damalige russische Zone kurz vorher ausgewiesen worden, habe ich sie dann mit Interzonenpass in Oelsnitz/Erzgebirge besuchen können. Mutter wollte, dass ich bleibe. Jedoch nach zwei Wochen bin ich in die britische Zone zurückgefahren. Es war die richtige Entscheidung. Jetzt wohne ich mit meiner Familie in Bayern.

Fotos aus: "Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen" von Alfred M. de Zayas

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